Wednesday, July 12, 2006

Die Gewalt der Erzeuger

Erstmals wurde in Schweden ein Mann verurteilt, weil er seine Tochter beschneiden ließ. Im schwedischen Multikulti-Jahr wird über dieses Thema nicht gerne diskutiert. von bernd parusel, stockholm
Eltern, die ihre Tochter beschneiden lassen, täten dies nicht aus Grausamkeit, meint die schwedische Familienministerin Berit Andnor. Sie glaubten vielmehr, »dass sie ihr so ein besseres Leben ermöglichen können«. Sie könnten Angst haben, dass die Tochter andernfalls keinen Ehemann findet, dass sie behinderte Kinder zur Welt bringt oder sich nicht vollends zur Frau entwickelt. Sie meinten ganz einfach, dass Beschneidung zum »Frausein« dazugehöre, sagt Andnor.
In Schweden gibt es seit dem Jahr 1982 ein Gesetz, das Genitalverstümmelung unter Strafe stellt. Seit sieben Jahren gilt dies auch, wenn die Beschneidung im Ausland erfolgte. Ende Juni zeigte das Gesetz erstmals Wirkung. Ein Gericht in Göteborg verurteilte einen 41jährigen, aus Somalia stammenden Mann zu vier Jahren Gefängnis. Nach Ansicht der Richter war er mit seiner 12jährigen Tochter nach Mogadischu gereist und hatte sie dort beschneiden lassen. Später gelang der Tochter die Flucht. Sie kehrte nach Schweden zurück und zeigte ihren Vater an. Dieser bestritt vor Gericht die Tat. Seiner Anwältin zufolge will er Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen.
Frauen- und Menschenrechtsorganisationen begrüßten den Schuldspruch. Der Fall zeige, dass das Gesetz gegen Genitalverstümmelung wirksam sei, sagte Anna Frenning von der Organisation Rädda Barnen (Rettet die Kinder). Louise Abubakar von Risk (Verein Stoppt weibliche Genitalverstümmelung) erhofft sich von dem Urteil eine Signalwirkung. Viele Frauen wagten es jedoch nicht, ähnliche Fälle anzuzeigen, sagte sie der Zeitung Dagens Nyheter. Sie riskierten damit schließlich eine Bestrafung ihrer engsten Familienangehörigen. Der Verein Risk klärt in mehreren Sprachen über Genitalverstümmelungen auf. Im Vorstand sind Frauen aus afrikanischen Ländern und Schweden tätig.
In 28 afrikanischen Ländern sind unterschiedliche Praktiken der Genitalverstümmelung an Mädchen ein verbreiteter Brauch. Wegen der nach westlichen Maßstäben brutal zu nennenden Art des Eingriffs und der Gefahr gesundheitlicher und psychischer Schäden sind sie jedoch international geächtet. Die Weltgesundheitsorganisation WHO betreibt seit Jahren Kampagnen gegen die verschiedenen Formen der weiblichen Genitalverstümmelung. Der Organisation zufolge sind weltweit zwischen 100 und 140 Millionen Frauen beschnitten.
Das Urteil von Göteborg böte nun eigentlich auch Anlass, darüber zu diskutieren, wie es kommt, dass es Genitalverstümmelungen nicht nur in Afrika, sondern auch in einer hoch industrialisierten Gesellschaft wie der schwedischen zu geben scheint. Man könnte etwa fragen, ob es Zusammenhänge zwischen der mangelhaften Integration von Migranten auf der einen und dem Fortleben extremer Überzeugungen oder Praktiken bei manchen Einwanderern auf der anderen Seite gibt. Der Göteborger Fall ist nicht der einzige, der auf Defizite der schwedischen Integrationspolitik hindeutet. So wurde kürzlich aufgedeckt, dass Gerichte Migranten durchschnittlich zu längeren und härteren Strafen verurteilen als schwedische Straftäter. Als bekannt wurde, dass eine Stockholmer Moschee Kassetten verkaufte, auf denen zum Mord an Juden augerufen wurde, blieb die Justiz dagegen untätig.
Einwanderung, Multikulturalismus und Integration sind Themen, über die in Schweden immer wieder diskutiert wird. In diesem Sommer aber scheinen weiter gehende Debatten auszubleiben, obwohl die sozialdemokratische Regierung das Jahr 2006 zum Mångkulturår ausgerufen hat, zum »multikulturellen Jahr«. Mit Veranstaltungen im ganzen Land soll unter anderem die Teilnahme von Migranten am Kulturleben gefördert werden. Vielerorts beschränken sich die Bemühungen um Vielfalt bislang aber auf folkloristische Musik- und Tanzfeste. Themen wie der Genitalverstümmelung wird wenig Platz eingeräumt.
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