Sunday, December 10, 2017

Warum es im Nahen Osten keinen Frieden gibt

von Philip Carl Salzman
  • Frieden im Nahen Osten ist deshalb nicht möglich, weil andere Werte und Ziele den Nahöstlern wichtiger sind als Frieden. Am wichtigsten sind ihnen die Loyalität zur Sippe, zum Clan und die konfessionelle Zugehörigkeit sowie die Ehre, die durch diese Loyalität gewonnen wird.
  • Vor dem Aufkommen des Islam gab es oberhalb des Stammes oder der Stammeskonföderation keine größere Gruppe und keine Loyalität zu etwas anderem. Mit dem Islam wurde eine neue, höhere, umfassendere Ebene der Loyalität definiert. Alle Menschen wurden nun in Muslime und Ungläubige eingeteilt, die Welt wiederum wurde geteilt in das Dar al-Islam, das Land der Gläubigen und des Friedens, und das Dar al-harb, das Land der Ungläubigen und des Krieges. Der Stammesideologie und -Loyalität folgend sollten sich die Muslime gegen die Ungläubigen vereinen. Dafür würden sie nicht nur Ehre erhalten, sondern auch himmlischen Lohn.
  • Ehre wird durch Sieg gewonnen. Verlieren wird als zutiefst demütigend empfunden. Nur die Aussicht auf einen zukünftigen Sieg und den Rückgewinn der Ehre treibt die Leute vorwärts. Ein Beispiel dafür ist der arabisch-israelische Konflikt, in dessen Verlauf die verachteten Juden die Armeen der arabischen Staaten immer wieder besiegt haben. Das war für die Araber nicht so sehr eine materielle Katastrophe als eine kulturelle, bei der die Ehre verloren wurde. Der einzige Weg, die Ehre zurückzugewinnen besteht darin, Israel zu besiegen und zu vernichten. Das ist das ausdrückliche Ziel der Palästinenser: "vom Fluss [Jordan] bis zum Meer". Das ist der Grund, warum kein Abkommen über Land oder Grenzen Frieden bringen wird: Frieden stellt die Ehre nicht wieder her.
  • Wir im Westen lieben, anders als die Nahöstler, "Opfer". Doch was, wenn die Nahöstler Opfer der Grenzen und Unzulänglichkeiten ihrer eigenen Kultur sind?
Als Anthropologe in einem Hirtenlager der Yarahmadzai, einem Stamm nomadischer Viehhalter in den Wüsten von Iranisch-Belutschistan gelebt zu haben, hat mir einige der Hemmnisse für Frieden im Nahen und Mittleren Osten klar werden lassen. Was man dort sieht, ist auf der einen Seite eine starke, auf Verwandtschaft beruhende Gruppenloyalität, wenn es um Verteidigung und Solidarität geht; auf der anderen Seite eine politische Rivalität zwischen verschiedenen Abstammungslinien, großen und kleinen. [1] Das wirft die Frage auf, wie es in einem solchen auf Opposition basierenden System Einigkeit und Frieden geben kann.
Frieden im Nahen Osten ist deshalb nicht möglich, weil andere Werte und Ziele den Nahöstlern wichtiger sind als Frieden. Am wichtigsten sind ihnen die Loyalität zur Sippe, zum Clan und die konfessionelle Zugehörigkeit sowie die Ehre, die durch diese Loyalität gewonnen wird. Das sind die kulturellen Imperative, die primären Werte, die hochgehalten und gefeiert werden. Wenn es zu einem Konflikt kommt und die Konfliktparteien sich auf der Basis von Loyalitäten bilden, dann wird der Konflikt als angemessen und richtig erachtet.
Die Ergebnisse der absoluten Hingabe an die Sippe und die religiöse Gruppe sowie der strukturellen Opposition zu allen anderen kann man durch die ganze Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens hindurch beobachten – und auch in gegenwärtigen Entwicklungen, die von grassierenden Konflikten geprägt sind. Türken, Araber und Iraner haben militärische Feldzüge begonnen, um Kurden zu unterdrücken. Unterdessen werden Christen, Jesiden, Bahai, Juden und viele andere Opfer ethnischer Säuberungen. Araber und Perser, Sunniten und Schiiten, sie alle versuchen, Macht über den jeweils anderen zu erringen; dieser Wettbewerb ist einer der wichtigsten Faktoren, die dem Iran-Irak-Krieg, dem Regime Saddam Husseins und der derzeitigen Katastrophe in Syrien zugrunde lagen bzw. liegen. Die Türken fielen 1974 im griechisch-orthodoxen Zypern ein und halten es seither besetzt. Mehrere muslimische Staaten sind dreimal in dem winzigen jüdischen Staat Israel eingefallen, und Palästinenser feiern täglich die Ermordung von Juden.
Einige Bewohner des Nahen Ostens – und mit ihnen manche im Westen – ziehen es vor, die Probleme des Nahen Ostens auf die Außenwelt zurückzuführen, etwa auf westliche Imperialisten; doch ist es komisch, zu suggerieren, die Bewohner vor Ort hätten keinen Einfluss auf und keine Verantwortung für ihre Handlungen in dieser katastrophalen Region, die nicht nur reich an Konflikten und Brutalität ist, sondern gleichzeitig auch arm an dem, was in der ganzen Welt die anerkannten Parameter der menschlichen Entwicklung sind.
Schaut man sich, um die örtlichen Konflikte zu verstehen, die Verhältnisse vor Ort an, dann ist das erste, was man verstehen muss, dass die arabische Kultur über die Jahrhunderte bis zur heutigen Zeit auf dem Fundament der beduinischen Stammeskultur aufgebaut worden ist. Als der Islam aufkam, bestand die Bevölkerung auf der nördlichen arabischen Halbinsel aus Beduinen; während der Periode der raschen Expansion, die auf die Annahme des Islam folgte, rekrutierte sich die arabisch-muslimische Armee aus beduinischen Stammeseinheiten. Die Beduinen, zum größten Teil nomadische Viehhalter, bildeten Stämme; diese Stämme sind regionale Verteidigungs- und Sicherheitsgruppen. [2]
Die Organisation von Beduinenstämmen basierte auf der Abstammung in männlicher Linie. Enge Verwandte, die miteinander in Konflikt kamen, aktivierten nur kleine Gruppen, während entfernte Verwandte, wenn sie miteinander stritten, große Gruppen ins Feld führten. Kamen z.B. Gruppen von Cousins miteinander in Konflikt, betraf dies niemanden sonst. Doch wenn Mitglieder verschiedener Teile des Stamms in Konflikt gerieten, vereinten sich alle Cousins und größere Gruppen einer Stammessektion in Opposition zum anderen Teil des Stamms. Zu welcher Gruppe ein Stammesmann sich zählte, hing also von den Umständen ab; davon, wer an einem Konflikt beteiligt war.
Beziehungen zwischen Abstammungsgruppen waren ihrem Prinzip nach immer durch Opposition definiert; Stämme als ganze sahen sich in Opposition zu anderen Stämmen. Die wichtigste strukturelle Beziehung zwischen Gruppen auf derselben Ebene des Stammbaums könnte man als Opposition im Gleichgewicht bezeichnen. Die stärkste politische Regel unter den Stammesmännern waren Loyalität zur eigenen Sippengruppe, im kleinen wie im großen, und deren Unterstützung. Stets muss man die enge Verwandtschaft gegen die entferntere unterstützen. Loyalität wurde mit Ehre belohnt. Die eigene Sippe nicht zu unterstützen war unehrenhaft. Das Ergebnis dieses Systems war häufig ein Showdown, die Gefahr eines Großkonflikts mit einer anderen Gruppe derselben Größe; die Entschlossenheit zu handeln war dabei eine Abschreckung vor leichtsinnigen Abenteuern. Die Geschichte der Stämme war reich an Konflikten; dass es nicht noch mehr wurden, lag an dieser gegenseitigen Abschreckung.
Vor dem Aufkommen des Islam gab es oberhalb des Stammes oder der Stammeskonföderation keine größere Gruppe und keine Loyalität zu etwas anderem. Mit dem Islam wurde eine neue, höhere, umfassendere Ebene der Loyalität definiert. Alle Menschen wurden nun in Muslime und Ungläubige eingeteilt, die Welt wiederum wurde geteilt in das Dar al-Islam, das Land der Gläubigen und des Friedens, und das Dar al-harb, das Land der Ungläubigen und des Krieges. Der Stammesideologie und -Loyalität folgend sollten sich die Muslime gegen die Ungläubigen vereinen. Dafür würden sie nicht nur Ehre erhalten, sondern auch himmlischen Lohn.
Ehre wird durch Sieg gewonnen.[3] Selbstaufopferung bei einem Versuch wird zwar gepriesen, doch Ehre kommt allein vom Gewinnen. Verloren zu haben und Opfer zu sein, ist in der arabischen Gesellschaft keine geschätzte Position. In einem politischen Kampf verloren zu haben, führt zu einem Verlust an Ehre. Dies wird tief im Innern gespürt als ein Verlust, der korrigiert werden muss. Verlieren wird als zutiefst demütigend empfunden. Nur die Aussicht auf einen zukünftigen Sieg und den Rückgewinn der Ehre treibt die Leute vorwärts. Ein Beispiel dafür ist der arabisch-israelische Konflikt, in dessen Verlauf die verachteten Juden die Armeen der arabischen Staaten immer wieder besiegt haben. Das war für die Araber nicht so sehr eine materielle Katastrophe als eine kulturelle, bei der die Ehre verloren wurde. Der einzige Weg, die Ehre zurückzugewinnen besteht darin, Israel zu besiegen und zu vernichten. Das ist das ausdrückliche Ziel der Palästinenser: "vom Fluss [Jordan] bis zum Meer". Das ist der Grund, warum kein Abkommen über Land oder Grenzen Frieden bringen wird: Frieden stellt die Ehre nicht wieder her.
Nichts von dem hier Gesagten ist den arabischen Kommentatoren unbekannt, die sich immer wieder auf die Stammesnatur ihrer Kultur und Gesellschaft beziehen. Natürlich leben heutzutage nur noch wenige Bewohner des Nahen Ostens in Zelten und züchten Kamele, doch Dorf- und Stadtbewohner teilen dieselben stammesspezifischen Annahmen und Werte. Die Araber, so der tunesische Intellektuelle Al-Afif al-Akhdar, halten ihre "Tiefenkultur der Stammesrachsucht" in Ehren und auch die daraus resultierende "fixierte, brütende, rachsüchtige Mentalität". [4] Der frühere tunesische Präsident Moncef Marzouki sagte einst: "Wir brauchen eine ideologische Revolution. Unsere Stammesmentalität hat unsere Gesellschaft zerstört." Dr. Salman Masalha, ein israelisch-drusischer Literat, argumentiert:
"Der Stammescharakter der arabischen Gesellschaften ist tief in die Vergangenheit eingebettet, und seine Wurzeln reichen zurück durch die ganze arabische Geschichte zur vorislamischen Ära ... Da die arabischen Gesellschaften ihrer Natur nach auf Stämmen beruhen, sind die verschiedenen Formen der Monarchien und Emirate die natürliche Fortsetzung dieser verwurzelten sozialen Struktur, in der Stammesloyalität vor allem anderen kommt."
Mamoun Fandy, ein in Ägypten geborener amerikanischer Wissenschaftler, schrieb im November 2011 in der saudi-arabischen Zeitung Asharq Al-Awsat:
"Die Araber waren nie – auch nicht nach der Ankunft des Islam – ein 'ideologisches' Volk, wir haben nie danach gestrebt, eine intellektuelle Sicht auf uns und die Außenwelt zu entwickeln. Stattdessen sind wir das Volk der Blutsbeziehungen und der familiären Bande: 'Shalal', wie wir es in Ägypten nennen. ... Trotz der Tatsache, dass der Islam die größte intellektuelle Revolution in unserer Geschichte war, ist es uns als Arabern gelungen, den Islam so anzupassen, dass er dem Stamm, der Familie, dem Clan dient. Die islamische Geschichte begann als eine intellektuelle Revolution und als eine Geschichte der Ideen und Länder; doch nach dem Beginn des orthodoxen Kalifats wurde es in einen Staat mit Stammeszügen verwandelt. Der Staat des Islam wurde zum Staat der Umayyaden, dann der Abbasiden, der Fatamiden usw. Das bedeutet, dass wir nun eine Geschichte von Stämmen statt einer Geschichte von Ideen haben. ... Ist diese Stammesgeschichte mitsamt der Stammes- und Familienloyalität und dem Vorrang von Blutsbeziehungen vor intellektuellen Beziehungen nach dem 'arabischen Frühling' immer weiter gegangen? Natürlich nicht; was passiert ist, ist, dass die Familien und Stämme sich im Jemen und in Libyen in den Mantel der Revolution gekleidet haben, und in Ägypten besteht die Opposition eher aus Stämmen denn aus Konzepten."
Beduinenmänner in Abu Dhabi. (Foto: Dan Kitwood/Getty Images)
Die Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens, Jahrhunderte von Stammeskriegen und die andauernden Spaltungen der arabischen Gesellschaft zeugen alle von der arabischen Stammeskultur und struktureller Opposition. In der vormodernen Zeit mag es für die Beibehaltung der Stammeskultur und -Organisation gute Gründe gegeben haben: Staaten und Reiche waren despotisch, ausbeuterisch und stark abhängig von Sklavenarbeit; die Stammesgesellschaften gaben einigen Völkern die Chance, unabhängig zu bleiben. In der neueren Zeit, als das Modell des modernen Staates sich verbreitete, haben Regierungen im Nahen und Mittleren Osten versucht, Staaten zu etablieren, doch diese krankten an Stammesloyalitäten und Rivalitäten, die nicht gut mit einem Verfassungsstaat in Einklang zu bringen sind. Die Herrscher in der Region haben allesamt auf Unterdrückung gesetzt, um ihre Position zu halten und so alle muslimischen Staaten der Region zu Despotien gemacht.
Viele Nahöstler sehen die Katastrophen um sie herum und geben Auswärtigen die Schuld: "Die Briten haben uns das angetan"; "Schuld daran sind die Amerikaner."[5] Viele westliche Professoren und Kommentatoren sagen dasselbe und ehren diese der geschichtlichen Wahrheit zuwiderlaufende Theorie mit dem Etikett "Postkolonialismus". Doch da die Stammesdynamiken in der Region schon tausend Jahre seit der Gründung des Islam sowie in den tausend Jahren zuvor da waren, ist es kaum glaubhaft, Auswärtige für die regionale Dynamik verantwortlich zu machen. Trotzdem werden "Postkolonialisten" behaupten, dass wer auf die regionale Kultur als dem Fundament der regionalen Dynamik verweist, "den Opfern die Schuld gibt". Wir im Westen lieben, anders als die Nahöstler, "Opfer". Was aber, wenn die Nahöstler Opfer der Grenzen und Unzulänglichkeiten ihrer eigenen Kultur sind?

[1] Philip Carl Salzman, Black Tents of Baluchistan, Washington, DC: Smithsonian Institution Press, 2000.
[2] Philip Carl Salzman, Culture and Conflict in the Middle East, Amherst, NY: Humanity Books, 2008.
[3] Frank Henderson Stewart, Honor, Chicago: University of Chicago Press, 1994.; Gideon M. Kressel, Ascendancy through Aggression, Wiesbaden: Harrassowitz, 1996.
[4] Zitiert nach Barry Rubin, The Long War for Freedom: The Arab Struggle for Democracy in the Middle East (Hoboken, NY: Wiley, 2006), 80-81.
[5] Ayaan Hirsi Ali, Infidel, NY: Free Press, 2007, S. 47.
https://de.gatestoneinstitute.org/11530/nahost-frieden

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